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Karl Ballmer: Briefwechsel über die motorischen Nerven

Erweiterte Neuausgabe


1. Auflage 2013, 236 Seiten

EUR 16.00 / SFR 22.00


Das Bewusstseinserlebnis des sich willkürlich Bewegens ist für jedermann das allerselbstverständlichste. Dennoch ist die Bewegungsfähigkeit des Holzklotzes und die Motilität des Menschen von grundsätzlich gleicher Art; die Annahme des Gegenteils wäre luziferische Anmaßung. Die erlebte Willkür ist kein physikalisches Agens. Es kann auf Grund der Belehrung Rudolf Steiners nur gesagt werden: Indem die Meier und Müller die Teilnahme ihres Ich an den Bewegungen erleben, kann auch das Bewusstseinserlebnis des sich willkürlich Bewegens auftreten. Es steht eben zur Aufgabe, dahinter zu kommen, dass es zur Führung unseres Daseins notwendige Illusionen geben muss, damit wir als die Bewohner unseres Körpers, den wir nicht ohne weiteres mit unserem ‘Ich’ zu identifizieren haben, moralische Wesen sein können.

In Form eines sozial-existentiellen „Experimentes“ – im Briefwechsel mit dem anthroposophischen Arzt Gerhard Kienle – legt Karl Ballmer dar, dass und wie die These Rudolf Steiners: „es gibt keine ‘motorischen’ Nerven“ der Angelpunkt seiner Gesamtweltanschauung ist.

*

Ballmer insistiert auf der hartnäckigen Feststellung Rudolf Steiners, dass es sich bei der Unterscheidung von zweierlei Nervenarten um einen fatalen Irrtum, ja einen „Wahnsinn“ handle: „Dieser wissenschaftliche Denkfehler über die sogenannten Bewegungsnerven ist ein Kapitalfehler, der die ganze Physiologie und Psychologie verdorben hat.“ – Steiner wusste, dass er mit seiner Schau des Nerven- und Willensgeschehens vor dem Forum der Neurologie nur als „blutiger Dilettant“ durchgehen könne. – Die Vorstellung des nervengesteuerten Willens ist nach wie vor eine Theorie, die aber als sichere Tatsache gehandelt wird. Steiner beharrt darauf, dass die vermeintlichen „motorischen“ Nerven der „Einschaltung“ des seelischen Lebens in die Eigenbewegung des Körpers dienen; sie ermöglichen oder „vermitteln“ Empfindungen wie alle anderen: die Wahrnehmung der Gliedmaßenbewegung ist nach Steiner eine „äußere Wahrnehmung“ am Körperinneren. Das Seelenleben der Einzelmenschen ist abhängig von den Bewegungen des Körpers, der komplexen Gesamtheit der damit zusammenhängenden Wahrnehmungen, und keinesfalls umgekehrt. – In den Reihen der anthroposophischen Physiologen wird der Kampf Steiners gegen die motorischen Nerven kontrovers diskutiert, wovon die Bezeichnung „Nervenproblem“ zeugt: Wie soll man mit der Diskrepanz zwischen „sicherer Faktenlage“ und Steiners militanter Polemik umgehen? – Karl Ballmer war mit dem „Briefwechsel“ im Jahr 1953 im Gefolge einer Auseinandersetzung mit dem damals jungen Neurologen Gerhard Kienle aufgetreten. Er verficht die These, dass die Physiologie für die Thesen Steiners gar nicht zuständig sein könne, dass zum Verständnis derselben eine Rückbesinnung auf die Grundlagen von „Wissen“ und Wissenschaft unabdingbar sei. Auch Kienle vertrat später diese Ansicht, was von der anthroposophischen Nachwelt bis jetzt praktisch übersehen wird. Ballmers Briefe kontrastieren die Beweggründe Steiners mit der klassischen Leib-Seele-Dualität. Deren Publikation wurde von Ballmer als „Experiment“ mit der Gelehrtengruppenseele – ein Ausdruck Steiners – konzipiert.

Mensch und Welt sind als Einheit zu betrachten, welche Einheit sich an ihrer physischen Erscheinung als Menschenkörper spiegelt, und innerhalb dieser an der „ablähmenden“, abbauenden Nervenmaterie, an deren ganzen Bahnen, die immer von „Umfang zu Umfang“ gehen. Aus dem Spiegeln an dieser „toten Materie“ resultiert das gegenständliche Bewusstsein, der Intellekt. Dank dem polarisch entgegenstehenden aufbauenden Stoffwechsel entsteht das dumpfe, willenshafte Ich-Gefühl. Die Mensch-Welt-Einheit (der autarke, aufbauende „Wille“ jenseits von Zeit und Raum) bedarf keiner zerebral-neuronalen Steuerung – sie wird dank der (zwölf) Sinne ihrer selbst als „Mensch“ gewahr – wobei die Muskelnerven der Wahrnehmung („sensitiv“) der Eigenbewegung dienen. Die an den Stoffwechsel gebundene Willensaktivität ist gegenüber den neuronalen Vorgängen ein Primäres – sie ist ein „magischer“ Vorgang, manifestiert sich direkt-physikalisch – sie ist oberhalb psychologischer „Einwirkungen“ aufzusuchen. Zwischen dem „wachenden“ Nerven-Sinnes-Pol und der „schlafenden“ Stoffwechsel-Gliedmaßen-Peripherie steht das rhythmische System, die leibliche Grundlage des Fühlens. Der klassischen Leib-Seele-Dichotomie stellt Steiner die Leib-Seele-Geist-Trinität in Gestalt der physiologischen Trichotomie gegenüber. Der Körper und dessen Bewegungen sind ein differenziertes „Göttliches“, ein Urphänomen. Die heutige Naturwissenschaft interpretiert dieses „Göttliche“ als „Selbstorganisation kohärenter Strukturen“.

Ballmers Briefe sind von größtem Wert, um die Thesen Steiners mit den Mitteln des normalen Verstandes nachzuvollziehen. Sie wurden in den vergangenen 65 Jahren von den anthroposophischen Fachleuten tabuisiert, obwohl sie die Lösung jenes Rätsels bergen, das die zahllosen polemischen Äußerungen Steiners gegen die gültige Nervenlehre darstellen. – Ballmers Blick auf den Menschen als einem „Untermieter“ des selbstbewegten „Gattungsmenschen“, dem geistphysischen Urgrund allen Schöpfungsgeschehens, ist der Schlüssel zur Lösung – dies zeigt sich in der überraschenden Wendung, die das Leben Gerhard Kienles im Jahre 1983 nahm. Kienle vertrat kurz vor seinem Tod die Ansicht, dass das eigentliche Problem im bisherigen „goetheanistischen“ oder „phänomenologischen“ Ansatz der anthroposophischen Wissenschafter zu suchen sei. Ohne Rückbesinnung auf die weltanschaulichen Grundlagen der Anthroposophie gerate man zwingend in Opposition zu Rudolf Steiner. Dieses Problem liege denn auch dem bisher ausgebliebenen Erfolg der anthroposophischen Medizin zugrunde. – Der dramatische Stellungswechsel des namhaften Anthroposophen und Universitätsgründers wird in der „hauseigenen“ anthroposophischen Biografie des bekannten Autors Peter Selg nicht thematisiert. – Auch der Goetheanist Wolfgang Schad, Herausgeber der zweibändigen Publikation „Nervenorganisation und soziale Frage“ (Verlag Freies Geistesleben, 1992), übergeht diese „finale“ Wende in Kienles Leben. – Schad geht als einziger auf Ballmer ein. Er präsentiert dessen geist-physikalischen Ansatz aber im Zerrbild einer eigenen psychologischen Ich-Lehre, welche das „Nervenproblem“ wieder in den Kompetenzbereich der Fachwissenschaft „heimholt“. Mit der spekulativen Theorie eines „Doppel-Ich-Aspektes“ will Schad das heikle Problem der Nervenpolemik Steiners bewältigen, was in eine Vergewaltigung der Bemühungen Ballmers und Steiners hinausläuft. Auch dem Leser wird Gewalt angetan: die Auseinandersetzung Kienle/Ballmer, die Publikation des Briefwechsels, wird diskret übergangen. Der selektive redaktionelle Umgang hat für alle – nicht nur für Ballmer und Kienle – schädigende Konsequenzen. Für letzteren insofern, als die „Goetheanismus“-Kritik unterschlagen werden muss. Jener Aufsatz Kienles aus dem Jahr 1950, der zur Intervention Ballmers und zur Publikation des Briefwechsels Anlass gegeben hatte, wird im zweiten Teil des Sammelbandes erstmals buchmäßig veröffentlicht – was eine Rückdatierung Kienles um 30 Jahre bedeutet. Vom Stellungswechsel, von den inneren Zweifeln, der berührenden Selbstoffenbarung keine Spur mehr – außer der kryptischen Mitteilung, dass Kienle von sich aus den Artikel von 1950 niemals wieder veröffentlicht hätte. – Diese offenkundige Manipulation ist Symptom eines massiven Missverstehen-Wollens. –

*

Peter Wysslings Kommentarband zum „Briefwechsel“ kontrastiert Ballmers Briefe mit den Beiträgen neuerer anthroposophischer Autoren zum Thema. Ziel ist der Nachweis, dass es eine Lösung des „Nervenproblems“ erst geben kann, wenn die (von Kienle eingeforderte) Kritik des akademischen „Goetheanismus“ zugelassen wird. – Bei Steiner und Ballmer bedeuten Schicksal und „Wille“ dasselbe; die jetzige, um andere Texte erweiterte Neuausgabe des Briefwechsels setzt das von Ballmer eingeleitete „Experiment“ fort – jene Reifeprüfung, die sich konsequent dem Zufall des laufenden Geschehens ausgesetzt weiß. Die Behandlung des Themas hat weitreichende Konsequenzen, bis hin zu einem neuen Blick auf die vielfältigen „Krisen“ der Gegenwart: auf die unbewältigte „soziale Frage“.


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